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Das Singertor – ein gotisches Schmuckstück

Vereinszeitung Unser Stephansdom 136, Juli 2022, Titel: Das Singertor – ein gotisches Schmuckstück,

Portale sind für gotische Kathedralen ganz wesentliche Bauteile: Sie empfangen die Besucher, bereiten sie auf den Eintritt in den Kirchenraum vor und vermitteln auch denen, die nur vorübergehen, eine Idee vom Inneren der Kirche.

An den meisten klassischen gotischen Kathedralen befinden sich in der turmbekrönten Westfassade und an den Querhäusern mehrere Portale, die reich mit Skulpturen und Reliefs geschmückt sind und den Schwerpunkt der künstlerischen Anstrengungen bildeten.
Der Stephansdom folgt diesem Schema nicht, sondern behält das Westportal der romanischen Kirche bei, das in den gotischen Bau integriert wird. Ergänzend werden Portale an den Langhauswänden errichtet. Trotz dieser außergewöhnlichen Position wurden die Seitenportale baulich nicht besonders hervorgehoben. Aber vor allem das Singertor an der Südseite ist an einem wichtigen Ort des Domes platziert: Wenn man vom Graben kommt, wird man zwischen Westwerk und Südturm geradezu zu diesem Platz hingeführt. Diese beiden Seitenportale wurden beim Neubau des Langhauses im 14. Jahrhundert errichtet und dienten lange Zeit als Haupteingänge in den Dom, da das Riesentor bis 1945 nur zu besonderen Anlassen geöffnet wurde. Die Position des Einganges an der Langhauswand verändert aber auch den Raumeindruck, der sich den Eintretenden bietet: Man überblickt nicht die volle Lange der Kirche, dafür mehrere Schiffe. Sie ist dadurch überschaubarer, und der lichtdurchflutete, hohe Raum wirkt durch seine weiten Pfeilerabstände sehr großzügig und einladend.
Schon um 1440, als man über dem Langhaus das hohe Dach fertiggestellt hatte, wurde dem Singertor eine Vorhalle vorgebaut, die es vor Verwitterung schützen sollte, aber auch eine Zwischenzone zwischen dem Platz und der Kirche schuf. Dieser Vorraum hatte nicht nur ganz praktische Funktionen als Wetterschutz für die Besucher und als Klimaschleuse, sondern bot auch die Gelegenheit, sich auf den Eintritt vorzubereiten und die künstlerische Ausstattung zu betrachten, die eine ganz besondere Qualität hat. Für den Namen „Singertor“ gibt es übrigens mehrere Erklärungsversuche: einerseits als Eingang der Sänger, die vom Kantorenhaus den Dom durch dieses Portal betraten, andererseits von der Singerstraße, die nach einer bayrischen Familie benannt ist.

AUSSENBAU – ARCHITEKTUR

Zwischen den großen Blöcken der Westkapellen und der barocken Sakristei markiert die zierliche Architektur des Singertor-Vorbaues den Eingang in den Dom. Im unteren Bereich besteht sie eigentlich nur aus zwei reich gegliederten, aber ungeschmückten Bündelpfeilern, zwischen denen drei Tore eingefügt sind. Die anderen beiden Seiten der fünfeckigen Vorhalle bilden die Langhauswand und der Strebepfeiler des Domes. Über den Türstürzen erhebt sich eine durch Fenster und Maßwerk sehr fein gegliederte und filigrane Gewölbezone. An den beiden freistehenden Ecken wurden Figurennischen eingearbeitet: Die Skulpturen zeigen die Steinigung des heiligen Stephanus, der Namenspatron des Domes, und den Apostel Paulus. Die Beziehung der beiden ist durch Paulus selbst dokumentiert. Er hatte in seiner Jugend, als er noch den Namen Saulus trug, das Christentum abgelehnt und war an der Verurteilung und Hinrichtung des heiligen Stephanus beteiligt. Zwischen den Pfeilern sind drei Maßwerkfenster aufgespannt, die – in der Höhe der Skulpturen – jeweils vier Bahnen bilden, die wohl ursprünglich mit Glasmalerei ausgestattet waren. Leider blieb davon nichts erhalten, wir können über die Darstellungen auch nur spekulieren, da die originalen Scheiben nicht erhalten sind und auch die bildlichen Darstellungen der frühen Neuzeit keine Hinweise auf die Glasmalerei geben: Für die zwölf Fensterscheiben bietet sich aber die Darstellung der zwölf Apostel an.
Im Bereich der Spitzbögen sind die Fenster in zierliches Maßwerk aufgelöst, der obere Abschluss der Architektur wird von einer umlaufenden Maßwerkgalerie gebildet, aus der Wasserspeier in Form von unterschiedlichen Tieren herausragen. Eine Reihe von hohen, sehr schlanken Fialspitzen überragen den Vorbau, verstärken und betonen seine Zierlichkeit. Bei geöffneten Toren wirkt der Vorbau fast wie eine schwebende Krone, die sich um die Statik nicht allzu sehr kümmern muss. Dieser Vorbau markiert den Eingang, der sonst in der monumentalen Südwand des Domes nicht auffallen wurde. Um Aufmerksamkeit zu schaffen, wird aber nicht Größe und Monumentalität eingesetzt, sondern Leichtigkeit, welche die Blicke und auch die Schritte auf sich ziehen soll. Denn obwohl die Vorhalle den eigentlichen Eingang verdeckt, fallt sie auf und erweckt Neugierde auf das Dahinterliegende.

DIE FIGUREN UND DER ZAHN DER ZEIT

Die beiden Figuren sind leider sehr stark der Verwitterung ausgesetzt und wurden schon im 19. Jahrhundert mehrmals restauriert. Die Skulptur des heiligen Paulus wurde 1976 durch eine Kopie von Franz Ölzant ersetzt. Das Original wird auf der Westempore des Stephansdomes aufbewahrt. Bis auf Fehlstellen an den Händen ist die Figur noch gut erhalten. Der Kopf des heiligen Stephanus war aber durch Umwelteinflüsse schon weitgehend verloren und musste daher im Jahr 2000 von Philipp Stastny ergänzt werden.

PORTAL DES STIFTERS

Die dominierende Komponente im Inneren ist das ursprüngliche, von Rudolf dem Stifter initiierte Portal. Die Skulpturen werden der Zeit Rudolfs des Stifters (+ 1365) zugeschrieben, sie können teilweise aber schon früher entstanden sein. Über die Baugeschichte des Langhauses wurde vor einigen Jahren sehr intensiv diskutiert, dabei wurde auch erwogen, dass die beiden Portale ursprünglich an anderer Stelle eingebaut und erst um 1440 an die heutige Stelle versetzt worden waren. Die gründlichen bauhistorischen Untersuchungen, die in den letzten Jahren von der Universität Bamberg durchgeführt wurden, haben aber ergeben, dass das Portal gemeinsam mit dem Langhaus errichtet worden ist.

SKULPTUREN – IM STIL DER ZEIT GEKLEIDET

Die unterste Reihe der Skulpturen in den Gewändenischen bilden Herzog Rudolf der Stifter und seine Frau Katharina von Böhmen, begleitet von Wappenträgern. Die Wappen zeigen bei ihm den österreichischen Bindenschild und die Fische von Pfirt im Elsaß (von seiner Mutter Johanna), bei ihr den deutschen Adler und den böhmischen Löwen (ihr Vater Karl IV. war König von Böhmen und römischdeutscher Kaiser). Sie sind im Stil der Zeit gekleidet. Katharina tragt einen „Kruseler“, eine vielfach gefältelte und gekräuselte Haube, ein eng anliegendes Kleid und einen sehr tief sitzenden Gürtel und ist sehr schlank und schwungvoll bewegt dargestellt. Sie zeigt den typischen S-förmigen Schwung, den wir aus den Madonnen-Statuen dieser Zeit kennen. Ist bei der jungen Herzogin die Zierlichkeit der Darstellung noch geradezu selbstverständlich, ist sie bei ihrem Mann Rudolf verwunderlich, denn bei einem jungen Herzog wurde man eher typisch „männliche“ Körperattribute erwarten wie breite Schultern und einen festen Stand. Diese fehlen aber hier weitgehend, dafür wurde die elegante, zierliche Komponente der Erscheinung herausgearbeitet und betont. Er wollte sich offensichtlich lieber als gewandter Diplomat sehen und nicht als starker Kämpfer, was ja auch durchaus der Realität seines Lebens entsprach.
In den Bogen sind männliche Heilige dargestellt, die meisten von ihnen Apostel, aber auch Johannes der Täufer, der als Vorbote Christi eine wichtige Funktion hat.
Außerhalb der Bogenzone, in den Ecken des Raumes, sind Christus und Elias gegenübergestellt. Damit ist neben den Figuren des Neuen Testaments auch das Alte Testament repräsentiert. Diese Gegenüberstellung ist wichtig für die Interpretation der Themen der Reliefs: der Bekehrung Saulus zum Christentum. Es ist nicht das Trennende, sondern das Einende zu sehen. Die Entstehungszeit des Singertores ist auch in Wien durch ein friedliches Zusammenleben der Religionen gekennzeichnet.

TAUFE UND MARTYRIUM

Das Bogenfeld bilden zwei sehr bemerkenswerte Reliefs mit der Geschichte des Apostels Paulus. Im unteren Relief vollzieht sich seine Wandlung vom Christenverfolger Saulus zum wichtigsten  Verkünder der Lehre Christi, Paulus: Er zieht in der ersten Szene, links, mit Gefolge aus Jerusalem aus, um in Damaskus gegen das Christentum aufzutreten. In der zentralen Darstellung – er ist schon kurz vor Damaskus – stürzt er zu Boden und aus den Wolken erscheint ihm Christus mit den Worten: „Saul, warum verfolgst Du mich?“ Er erblindet und wird von seinen Begleitern nach Damaskus gebracht. Dort – dargestellt in der rechten Szene – besucht ihn der Christ Hananias, heilt seine Blindheit und bekehrt ihn. Im oberen Relief wird er getauft und erleidet – nach langem und erfolgreichem Wirken – sein Martyrium der Enthauptung. Das Relief mit Taufe und Enthauptung ist von hoher Qualität. Paulus und die Gefährten bei der Taufe sind anatomisch richtig dargestellt. Die Beziehungen der Figuren zueinander sind bemerkenswert gut erkennbar. Bemerkenswert ist auch die Darstellung der Enthauptung, vor allem die Kraft und der Schwung des Schergen, der das Schwert führt, ist sehr eindrucksvoll. Dieses Relief verdient höchste Aufmerksamkeit, wird aber durch das darunter befindliche Relief der Bekehrung Paulus in den Schatten gestellt.

AUSZUG AUS JERUSALEM

Die drei Szenen der Bekehrung Paulus sind in ihrer räumlichen Gestaltung fast beispiellos in der mitteleuropäischen Kunst.
Sie bilden in der Breite des Bildfeldes, das die gesamte Türbreite mit einem Stein überspannt, eine ästhetisch sehr ansprechende Komposition, die doch deutlich in Gruppen eingeteilt ist: Die Andeutung der Stadt Jerusalem, aus der Saulus und seine Gefährten ausziehen, bildet den Übergang zur gebauten Architektur des Portales und begrenzt die bewegte Szene. Die Dynamik des Aufbruches wird durch das Gedränge der Pferdeleiber, die vielen Schichten, die sich hintereinander aufbauen und auch durch die Wendung der Pferde erreicht. Die Pferde sind nicht parallel zur Bildebene angeordnet, wofür es zahlreiche Vorbilder seit der Antike gibt, sondern sie bewegen sich – trotz der naturgemäß beschränkten Tiefe des Reliefs – aus dem Bild heraus und sind in Drehung dargestellt. Die räumliche Tiefe, die dadurch erzeugt wird, ist faszinierend und beispiellos. Schon in diesem Abschnitt ist die Liebe zum Detail und die akribische Ausarbeitung zu bewundern: Die Rüstungen, die Waffen, die Kleidung sind bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet, das geht bis zu den Sporen an den Stiefeln der Reiter und der Ausführung der Handschuhe. Genau in der Mitte des Reliefs erscheint über der Reitergruppe Christus aus den Wolken. Während die gesamte Darstellung der Bekehrung von Saulus zu Paulus aus einem Stein gearbeitet wurde, ist die Skulptur Christi eingesetzt, aber dennoch bezieht sich nicht nur das Geschehen, sondern auch die Komposition der Figuren auf ihn.

DER STURZ

Die Erscheinung Christi im Bewusstsein von Paulus verursacht seinen Sturz vom Pferd, der hier in besonders eindrucksvoller Weise dargestellt wird: Die Beine der Pferde und der Menschen, die Speere und Schwerter kreuzen sich und weisen in verschiedene Richtungen. Das Chaos und die Verwirrung, die in diesem Augenblick herrschen, werden dadurch ganz deutlich gemacht. Der elegante Stil der Figuren steht zwar im Gegensatz zur bewegten Szene, die schlanken Gliedmaßen, die durch die spitzen Schuhe und andere Details in ihrer Erscheinung noch weiter verlängert werden, betonen die unterschiedlichen Bewegungen des Sturzes noch zusätzlich.

BEKEHRUNG UND HEILUNG

In der rechten Szene herrscht eine völlig andere Stimmung. Paulus kniet vor Hananias, der ihn aufnimmt, ihn bekehrt und wieder sehend macht. Den Abschluss bildet – wie ganz links – die Darstellung einer Stadt, diesmal Damaskus, die zwar nur angedeutet wird, sich aber deutlich von der Darstellung Jerusalems unterscheidet.
Paulus hat nun alle seine Waffen und prunkvollen Kleidungsstücke abgelegt und den (früheren) Gefährten übergeben: Schwert, Handschuhe, Helm – kein Detail haben die Bildhauer übersehen. Ein wichtiger Aspekt des Reliefs ist die exakte Ausarbeitung der Details, die auch dort nicht aufhört, wo die Sichtbarkeit für die Besucher endet: So sind im Boden die Abdrücke der Pferdehufe ausgearbeitet worden, obwohl sie nur von einem Gerüst aus überhaupt zu sehen sind.

PORTAL ALS ÜBERGANGSRAUM

Die Darstellung der Geschichte des Apostels Paulus an einem Portal ist nicht sehr häufig. Die Darstellung Christi als Weltenrichter (wie sie etwa auch beim Riesentor zu sehen ist) weist die Gläubigen auf die zukünftige Erlösung und Auferstehung beim jüngsten Gericht hin. Damit soll den Eintretenden eine Wandlung bewusst gemacht werden, die ihnen bevorsteht und auf die der Eintritt in die Kirche vorbereitet.
Beim Singertor können wir eine Wandlung nachvollziehen, die schon geschehen ist und die sehr vielschichtig und erlebbar dargestellt wird: Am Außenbau ist noch der alte Saulus zu sehen, der ungerührt der Hinrichtung des Stephanus zusieht. Auch wenn die Figurengruppen getrennt voneinander stehen, beziehen sie sich ganz deutlich aufeinander. Nach dem Eintritt in die Vorhalle wird das dramatische Ereignis der Wandlung von Saulus zum Paulus deutlich vor Augen geführt. Die Wandlung vom kriegerisch auftretenden Eiferer, der nur nach den Buchstaben des Gesetzes handelt, zum Gefallenen, der den Stolz ablegt und versucht, den Geist der Schrift zu erkennen, ist hier auch Vorbild für die Eintretenden. Diese Zone des Überganges zwischen dem geschaftigen Treiben des Außenraumes und dem Dom ermöglicht es, sich auf den Dom einzustellen. Auch wenn bei vielen Besuchern nicht immer die Ruhe herrscht, die man sich wünscht, bietet der Dom doch immer wieder die Möglichkeit, aus dem Alltag auszubrechen und zu sich selber zu finden oder sich an seiner Schönheit zu erfreuen. Auch wenn das Singertor heute nicht mehr als Eingang genutzt wird, ist es nicht nur ein faszinierendes Kunstwerk, das uns zum Staunen bringt, es bildet für Menschen, unabhängig von ihrem Glauben, ein Angebot, sich auf den Dom neu einzulassen und auch einen Weg zu sich selbst zu finden.

DAS SINGERTOR UND DIE FORSCHUNG

Das Singertor ist wegen seiner hohen Qualität immer wieder Gegenstand der Forschung und Untersuchung. In den letzten Jahren hat sich vor allem die Universität Bamberg (Stefan Albrecht, Stefan Breitling, Rainer Drewello, Katharina Arnold, Ruth Tenschert) im Rahmen eines europäischen Projektes mit dem Portal beschäftigt sowie Arthur Saliger, der ehemalige Direktor des Dom- und Diözesanmuseums sowie der Mittelaltersammlung der Österreichischen Galerie, ein exzellenter Kenner des Stephansdomes, der immer wieder Neues sieht und Zusammenhänge erkennt.

Dombaumeister
Arch. DI Wolfgang Zehetner

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