Bericht des Dombaumeisters
EINLEITUNG
Das laufende Jahr ist zwar noch immer von der Pandemie beherrscht, aber das Leben im Dom und in seiner Umgebung hat sich der Normalität wieder ein bisschen angenähert. Die Arbeiten zur Erhaltung des Domes sind auch in diesem Jahr unvermindert weitergegangen, auch wenn organisatorische Vorkehrungen getroffen werden mussten, um den Vorschriften zu entsprechen und die Gesundheit der Mitarbeiter zu schützen. Viele Kollegen haben ihre Arbeiten teilweise im Homeoffice oder im Home-Workshop zu Hause geleistet. Auch wenn die Kommunikation im Betrieb dadurch weniger direkt und selbstverständlich ablaufen konnte, haben die Ergebnisse für die Erhaltung des Domes dadurch nicht gelitten, da unsere Mitarbeiter ihre intensiven Kenntnisse über die Besonderheiten des Domes durch jahrelange Tätigkeit an ihm aufgebaut haben; die Arbeiten am Gerüst können ohnehin nicht ausgelagert werden.
SÜDFASSADE
Die Restaurierungen an der Hauptansicht des Domes, die seit etwa 25 Jahren zumindest teilweise eingerüstet war, konnten heuer endgültig abgeschlossen werden: Das Gerüst an der Südfassade wurde im Frühjahr abgebaut. Da das Gerüst aber großteils über dem Dach der barocken Sakristei errichtet war und nicht auf dem Boden stand, musste eine separate Hilfskonstruktion, welche die Last in die Strebepfeiler des Domes einleitete, gebaut werden. Um diese Aufleger für die Träger zu schaffen, wurden einzelne Steine aus dem Pfeiler herausgelöst, die jetzt wieder eingesetzt wurden. Die Arbeiten dafür wurden im Sommer erledigt, lediglich ein kleines Hilfsgerüst in den untersten Bereichen war dafür noch erforderlich.
Ein besonders wertvoller Bauteil des Domes ist das „Singertor“ an der Südseite. Der schützende Vorbau ist außen schon vor einigen Jahren restauriert worden, 2021 wurde er innen sorgfältig gereinigt. Dabei wurden die Verschmutzungen durch den Einsatz von Micro-Sandstrahlgeräten und Lasern reduziert, in bodennahen Bereichen, wo das Mauerwerk sehr stark mit Salz belastet ist, wurde mit feuchten Kompressen das Salz in den Steinen reduziert. Aber die starke Salzstreuung am Domplatz und Vogelkot, der durch das in den letzten Jahren wieder verstärkte Füttern der Tauben dramatisch zugenommen hat, gefährdet die Bausubstanz.
SÜDTURM
Die Mammutaufgabe der Restaurierung des Südturmes ist in seiner letzten Etappe angelangt: den Arbeiten an seiner Ostseite. Durch sorgfältiges und vorsichtiges Entfernen der Schmutz- und Sinterschichten kann die Oberfläche der Steine wieder freigelegt werden. Erst jetzt können die substanziellen Schäden am Turm deutlich erkannt werden, die Schablonen für die Steine, die ersetzt werden müssen, konstruiert und danach die neuen Stücke angefertigt werden.
Bemerkenswert an dieser geschützten Stelle des Domes ist, dass hier die Oberfläche zwar von dicken Schmutzkrusten überzogen war, aber – im Gegensatz zur stärker bewitterten Westseite – kaum Materialverlust festzustellen ist. Nach der Reinigung kann also an vielen Stellen wieder die Originaloberfläche zum Vorschein gebracht werden. Viele Details wurden aber in den letzten Jahrhunderten ersetzt: Abgebrochene oder verwitterte Krabben wurden erneuert und in die intakt gebliebenen Steine eingesetzt, Fialen mussten neu angefertigt werden. Die Vermörtelungen und Verklebungen der Ergänzungen sind noch gut zu erkennen, die historischen Materialien können gut untersucht werden. Man verwendete Naturharze (Kolophonium) für die passgenau eingesetzten Ergänzungen, für größere Fugen aber auch exotische Mörtelzusätze wie Ziegelmehl, Tierhaare oder Eisenspäne, um den Mörtel elastischer und haltbarer zu machen.
NORDFASSADE
Sie ist zwar heute nicht so sehr im Blickpunkt wie die Südfassade (die ältesten Ansichten des Domes aus dem 16. und 17. Jahrhundert zeigen ihn aber bevorzugt von dieser Seite!), steht ihr aber an künstlerischer Qualität in nichts nach. Die Friese unterhalb der Dachtraufe sind sehr fein ausgeführt und deshalb leider sehr anfällig für Erosion. Einige der am stärksten beschädigten Teile mussten schon vor einigen Jahren gesichert werden: Sie wurden vom Hubsteiger aus abgenommen, um eine Gefährdung von Passanten zu vermeiden. An die Nordfassade des Domes lehnt sich seit den 1860er-Jahren die Dombauhütte an, dort muss daher das Gerüst auf ihrem Dach aufgestellt werden. Am westlichsten Abschnitt, in dem sich auch das Bischofstor befindet, kann dagegen das Gerüst zumindest teilweise am Boden aufgestellt werden. Hier kann der Zustand der Fassade an einem überschaubaren Bereich untersucht werden, um den Zustand dieses Bauabschnittes besser beurteilen zu können. Dieser neu eingerüstete Bereich ist aber immerhin ca. 30 Meter hoch und umfasst den westlichsten der feingliedrigen Giebel, die im 19. Jahrhundert vollendet wurden, aber kurz darauf schon repariert werden mussten. Es sind hier also Objekte aus mehreren Bauphasen anzutreffen.
SEBASTIAN, PASSIONSSZENEN CHRISTI
Nachdem im Vorjahr ein Hauptwerk der mittelalterlichen Skulpturen in Europa, die „Dienstbotenmadonna“, restauriert werden konnte, wobei viele Reste von originaler Bemalung und Vergoldung freigelegt und gesichert werden konnten, ist heuer die Restaurierung der Skulpturen an den Langhauspfeilern fortgesetzt worden.
Die fast 90 Skulpturen, die ungefähr in 8 Metern Höhe an den Pfeilern des Langhauses, meist in Dreiergruppen, angebracht sind, sind ein Charakteristikum des Stephansdomes. Kein anderer gotischer Dom zeigt eine solche Fülle von Skulpturen, die meist von privaten Stiftern beauftragt wurden. Sie stellen daher nicht nur bedeutende Kunstwerke dar, sondern sind auch ein beredtes Zeugnis spätmittelalterlicher Volksfrömmigkeit.
Nachdem in den letzten Jahren die Skulpturen im Westen restauriert wurden, war heuer die Skulptur des heiligen Sebastian neben dem Orgelfuß an der Nordwand des Langhauses das wichtigste Objekt. Sie stammt aus der Schule von Niklas Gerhaert, dem Bildhauer der Grabplatte Friedrichs III. Die Bewegtheit des Körpers, die detaillierte Ausarbeitung des Gesichtes, das manche an Kaiser Maximilian I. erinnert, machen sie zu einer der wertvollsten Skulpturen der Spätgotik im Dom. Direkt neben dieser Skulptur wurde in den 1960er-Jahren die einzige Einblasöffnung für die Warmluftheizung eingebaut. Die Auswirkungen auf den Dom waren durchaus negativ: In der heißen Luft verbrannten Staubpartikel und lagerten sich an den Steinoberflächen des Domes ab, starke Luftströmungen schädigten die Kunstwerke, und dennoch konnte kein behagliches Raumklima erreicht werden. Die Heizung wurde daher schon im Jahr 2000 stillgelegt und durch ein weitaus schonenderes System mit niedrigeren Temperaturen ersetzt. Schäden, die durch die alte Heizung verursacht wurden, blieben aber trotzdem bestehen.
Die Skulptur des heiligen Sebastian war durch die Nähe zur Heizung besonders stark von der Verschmutzung betroffen. Sie war schon im Original bunt gefasst, aber durch Schmutzschichten und mehrere Übermalungen verfälscht. Die originale Farbfassung wurde nun so weit wie möglich freigelegt und gefestigt, Schmutzschichten entfernt.
Das Gerüst, das für die Arbeiten in dieser Höhe erforderlich ist, wurde im Herbst dieses Jahres erweitert, um auch die Figuren aus der Passion Christi, die am westlich anschließenden Pfeiler aufgestellt sind, restaurieren zu können. Es handelt sich bei den Skulpturen eigentlich um Gruppen: Christus wird in der Darstellung im Osten die Dornenkrone von zwei Schergen aufs Haupt gedrückt (mithilfe eines echten Rosenzweiges), an der westlichen Seite des Pfeilers ist Christus an der Geiselsäule mit zwei (kleiner wiedergegebenen) Stifterfiguren dargestellt, die zentrale Gruppe in erhöhter Position zeigt Christus als Schmerzensmann mit einer weiblichen Stifterin und einem männlichen Stifter in betender Haltung.
Die Skulpturen wurden gereinigt, die Oberfläche gesichert, und sehr vorsichtig wurden Fehlstellen retuschiert.
UNESCO-KULTURERBE
Die Aufnahme der österreichischen Dombauhütten in das nationale Register des „immateriellen Kulturerbes“ 2017 war für uns eine große Freude und Ehre. Durch diese Aufnahme wird unsere Praxis, den Dom mit denselben handwerklichen Mitteln, mit denen er im Mittelalter erbaut worden ist, zu erhalten und das jahrhundertealte Wissen um die Steinbearbeitung zu pflegen und an künftige Generationen weiterzugeben, gewürdigt. Im Dezember 2020 hat das internationale UNESCO-Komitee in Paris die Wiener Dombauhütte – gemeinsam mit 15 anderen europäischen Dombauhütten – in das „Register der Guten Praxisbeispiele“ aufgenommen. Hier werden Projekte aufgelistet, die sich in vorbildlicher Weise für die Erhaltung des jeweiligen immateriellen Erbes einsetzen.
DOMBAUMEISTERVEREINIGUNG, VORTRÄGE
Die internationale Zusammenarbeit und der Erfahrungsaustausch sind für die Dombauhütte seit jeher wichtig. Auch in Zeiten der eingeschränkten Reisefreiheit wurden die Arbeiten der Wiener Dombauhütte bei nternationalen Kongressen in Malta (über eine Internetschaltung) und in Pisa vorgestellt. Die jährliche Tagung der Dombaumeistervereinigung, die für heuer in Straßburg geplant war, wurde von den französischen Behörden leider abgesagt und konnte ebenfalls nur über das Internet abgehalten werden.
PUBLIKATIONEN
Die Dombauhütte ist immer wieder Partner in Forschungsprojekten über den Dom, um seine Geschichte und Entstehung besser zu verstehen und damit auch die Erhaltung zu erleichtern.
Die internationale Steinmetzzeichen-Datenbank, die vor fast 20 Jahren im Rahmen eines von der EU geförderten Projektes erstellt worden war, wurde modernisiert und für neuere Computersysteme angepasst; sie kann nun wieder unter „www.stonemarks.org“ durchstöbert werden. Es können auch von interessierten Laien Steinmetzzeichen, die an vielen historischen Bauten gefunden werden, verglichen und eingegeben werden.
Eine gemeinsam mit der Universität Wien veranstaltete Tagung zum Thema „Herzogswerkstatt“, jene Bildhauerwerkstatt, die zur Regierungszeit Herzog Rudolfs IV., des Stifters, (1357–65) für eine bedeutende künstlerische Blüte in Wien gesorgt hatte, hat internationale Beachtung erfahren. Die Ergebnisse der Tagung wurden nun in einem Buch zusammengefasst, das noch vor Weihnachten erscheinen wird.
AUSBLICK
Für das nächste Jahr hoffen wir, dass wieder mehr Besucher den Stephansdom genießen können und dass auch ein Tag der offenen Tür in der Dombauhütte stattfinden kann, bei dem wir Ihnen unsere Arbeit zur Erhaltung des Domes näherbringen können.
Im Inneren werden die Skulpturen weiter gereinigt und restauriert, die mit ihrer Farbigkeit den Blick nicht nur auf sich ziehen, sondern auch auf die höheren, fein detaillierten Partien des in seiner Gesamtheit so schön proportionierten und ausgeführten Kirchenraumes lenken.
Die Arbeiten am Südturm und an der Nordfassade sind aber äußerst umfangreich und heikel, da statisch belastete Teile in zierliches Maßwerk aufgelöst sind und beides, die Detailliertheit und die Standfestigkeit, erhalten und verbessert werden müssen. Die Aufgabe der Dombauhütte und der Bedarf, den Dom zu erhalten und – wo es möglich und erforderlich ist – noch schöner zu machen, sind auch 2022 vorhanden und werden uns vor große Herausforderungen stellen.
Dombaumeister
Arch. DI Wolfgang Zehetner