Der Stephansdom im Modell
Unser Stephansdom hat immer wieder Menschen begeistert. Das beschränkt sich nicht nur auf Wiener:innen und Österreicher:innen, auch Millionen Tourist:innen kommen jedes Jahr nach Wien, um ihn zu erleben. Die Faszination, die von St. Stephan ausgeht, ist kein Phänomen, das erst in Zeiten des Massentourismus auftrat, sondern ist schon viel älter. Ein Zeugnis für die weite Ausstrahlung von St. Stephan ist ein Modell im Maßstab 1 :25, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Bamberg gebaut wurde. Es befindet sich aber seit 1904 in Wien und ist nach aufwendiger Restaurierung jetzt wieder im Wien Museum ausgestellt und derzeit bei freiem Eintritt zu sehen.
DER MODELLBAUER CARL SCHROPP
Das Modell wurde vom Modellbauer Carl Schropp gebaut. Er wurde 1794 in Erfurt in Thüringen geboren und erlernte das Buchdruckerhandwerk von seinem Vater, dessen Betrieb er übernahm. Schon bald wandte er sich dem Bau von Architekturmodellen zu. Er entwarf und baute aber nicht nur Modelle, sondern auch „echte“ Altäre, Luster und andere Einrichtungsgegenstände. Seine Modelle dienten den Bauherren von Großprojekten zur Veranschaulichung historischer Bauten oder geplanter Neubauten, sie waren aber auch kostbare Dekorationsobjekte für den Privatbereich.
Er baute die Modelle aus Holz, Details wurden aus Gips oder aus Papiermaché mit festigenden Zusätzen wie Kolophonium und Steinmehl hergestellt. Er fertigte unter anderem Modelle vom Kölner Dom oder dem Markusdom in Venedig an. Das Modell des Wiener Stephansdomes ist zweifellos sein größtes und faszinierendstes. Es war zerlegbar (wenn auch sehr aufwendig), transportabel und wurde von ihm auf Ausstellungen für zahlende Besucherinnen und Besucher gezeigt.
Carl Schropp betrieb sein Atelier in Bamberg und war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, da seine Modelle – vor der Zeit von erschwinglichen Reisen und der Verbreitung der Fotografie – den Menschen bekannte Sehenswürdigkeiten nahebringen konnten. Er stellte auch auf den Weltausstellungen in London 1851 und Paris 1855 aus und erhielt den Titel eines „königlich preußischen Hof-Modelleurs“. 1875 verstarb er in Bamberg.
WEG NACH WIEN
Das Modell blieb nach Carl Schropps Tod in Bamberg, verlor aber als Attraktion für Ausstellungen mit der Zeit an Wert. Es stand auch kein geeigneter Raum zur Verfügung, sodass die Erben versuchten, das Modell an einen geeigneten Kunden zu verkaufen. Eine günstige Gelegenheit ergab sich, als Wiens Bürgermeister Karl Lueger in der Nähe Bambergs einen Kuraufenthalt verbrachte. Man bot ihm das Modell in einem Brief an, da man – zu Recht – erwartete, dass in Wien Interesse daran bestünde. Lueger machte aber den vorgeschlagenen Abstecher nach Bamberg zur Besichtigung des Modells nicht. Immerhin beauftragte er die zuständigen Wiener Beamtinnen und Beamte, sich um das Modell zu kümmern. Nach mehreren vergeblichen Anläufen reiste der Baumeister und Stadtrat Ludwig Zatzka nach Bamberg, um das Modell zu begutachten und die technischen Bedingungen für einen Transport zu klären. Er war aber so begeistert, dass er es spontan und ohne Rücksprache mit den Wiener Beamtinnen und Beamten von seinem eigenen Geld kaufte und es dem Bürgermeister zum 60. Geburtstag schenkte.
Der Sohn Carl Schropps begleitete den Eisenbahnwaggon, in dem es transportiert wurde, und leitete den Aufbau des Modells in Wien. So wurde es in den Ausstellungsräumen des Wiener Rathauses – das damals auch das heutige Wien Museum beherbergte – präsentiert.
Die Ausstellung historischer Kunstwerke im Rathaus, die ursprünglich eine Verbindung zwischen dem neugotischen Rathausbau und den mittelalterlichen Vorbildern herstellen sollte, erwies sich auf Dauer als unmöglich, weil die Räume bei Weitem nicht ausreichten.
So dachte man 1901 an einen Neubau eines Stadtmuseums, das am Karlsplatz stehen sollte. Das Projekt scheiterte, und erst 1959 wurde an der vorgesehenen Stelle das heutige Wien Museum errichtet. 1913 sollte das Stadtmuseum als Teil eines geplanten Kulturbezirks auf der Schmelz gebaut werden, in seinen Plänen sah Otto Wagner für das Modell einen eigenen zentralen Saal vor. Das ehrgeizige Projekt kam aber wegen des Ersten Weltkrieges nicht zustande.
Auch das Modell des Domes rückte aus dem zentralen Interesse des städtischen Selbstverständnisses und verschwand im Depot. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Modell im Dachboden des Stephansdomes ausgestellt, wo es – mit einer kurzen Unterbrechung 1997 – bis 2020 verblieb. Der Umbau des Wien Museums ermöglichte, es dort auszustellen und damit einem großen Publikum unter perfekten konservatorischen Bedingungen angemessen zu präsentieren.
BESONDERHEITEN
Die Vorbildtreue, die Schropp bei diesem Modell verfolgte, ist nicht nur auf den ersten Blick faszinierend. Immer wieder fallen dem:der Betrachter:in neue Details auf. Es lohnt sich also, sich für das Modell Zeit zu nehmen. Bemerkenswert sind aber auch die Abweichungen vom gebauten Original:
Die umfangreichste Abweichung ist das Weglassen von allen Bauteilen, die erst nach dem Mittelalter errichtet wurden. So fehlen etwa die Sakristei und der Abschluss des Nordturmes mit der Renaissance-Haube, in der heute die Pummerin montiert ist. Er erfand aber auch keine neogotischen Ergänzungen, und so ist der Nordturm als Torso dargestellt, dessen Pfeiler ohne Abschluss in den Himmel ragen.
Im Gegensatz dazu stehen die acht Giebel des Langhauses, von denen im Mittelalter nur einer fertiggestellt worden war. Die anderen wurden von Leopold Ernst erst in den Jahren 1853 bis 1855 ergänzt. Schropp konnte sie daher noch gar nicht kennen, als er mit dem Bau begann. Er nahm (wie Leopold Ernst) den bestehenden zum Vorbild, er ließ aber die Zonen des Giebels nach oben zurückspringen und gab ihnen so eine stärkere horizontale Gliederung, die der Schlankheit der Elemente nicht ganz entsprach. Er stützte sich natürlich nicht nur auf eigene Studien, sondern verwendete Ansichten und Pläne, die in den 1820er-Jahren erschienen waren und in ihrer erstaunlichen Genauigkeit einen sehr guten Eindruck von St. Stephan geben. Naturgemäß können sie aber nicht vollständig sein, da zum Beispiel eine Ansicht der Fassade nicht ihre Tiefenstaffelung wiedergeben kann. Bei den Giebeln konnte er nicht auf ein gebautes Original zurückgreifen, sondern hier war das Modell in den Ergänzungen fehlender Teile dem realen Bau voraus.
FARBIGKEIT DES RIESENTORES
Ein ganz bemerkenswerter Teil am Modell ist das Riesentor, denn dieser Bauteil ist am Modell bunt bemalt und vergoldet. Schropp berücksichtigte damit die neuesten Forschungen der Zeit. Denn 1850 veröffentlichte Eduard Melly die Schrift „Das Westportal des Domes zu Wien, in seinen Bildwerken und in ihrer Bemalung“, das Ergebnis der Untersuchungen, die der Architekt Leopold Oescher und er in den Jahren davor am Riesentor durchgeführt hatten. Sie hatten nicht nur die Bauskulptur studiert und in unzähligen Detailzeichnungen festgehalten, sondern auch die Oberfläche gründlich untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Riesentor ursprünglich farbig bemalt war. Auf Basis der Funde gab Eduard Melly auch einen Rekonstruktionsvorschlag an (dem Schropp aber nicht genau gefolgt ist).
Die sehr exakte Rekonstruktion der Farbigkeit bei Melly wurde bei den Untersuchungen 1996/97 im Wesentlichen bestätigt, wenn auch mit den modernen Methoden neue und tiefergehende Ergebnisse gewonnen werden konnten. So wurden mehrere Farbschichten festgestellt, und man konnte damit die unterschiedlichen im Mittelalter aufgebrachten Farbfassungen und ihre Abfolge zumindest auf dem Papier rekonstruieren.
Für Schropp aber zählte in diesem Fall weniger die wissenschaftliche Treue seiner Farbfassung, sondern vielmehr die Faszination der starken Buntheit (im Gegensatz zur Steinfarbigkeit des restlichen Modells), die er mit der Vergoldung vieler Details weiter erhöhte.
Erstaunlich an diesen Erkenntnissen ist, dass es um 1850 sehr wohl schon bekannt war, dass die mittelalterliche Architektur des Domes nicht steinsichtig, sondern bemalt war: Dennoch bemühte man sich während der Restaurierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, jeglichen Rest von farbiger Bemalung von den Steinen zu entfernen.
GRÖSSENANPASSUNGEN
Natürlich kann ein Modell nicht alle Details maßstäblich verkleinern. Denn allzu kleine Details könnten eventuell nicht in der geforderten Genauigkeit hergestellt werden und wären für die Betrachter auch nicht erkennbar. Manche Dinge mussten daher weggelassen oder – im Interesse der Gesamtdarstellung – vergrößert werden. Die Prophetenfiguren an den Gesimsen des Langhauses etwa wurden überproportional vergrößert, um überhaupt wahrgenommen werden zu können. Damit erhalten diese charmanten Details des Domes im Modell sogar größere Aufmerksamkeit als im Original.
INNERES
Eine Besonderheit des Modells ist die Möglichkeit, das Innere des Domes zu betrachten. In der Bodenplatte des Modells befindet sich im Mittelschiff des Langhauses eine Öffnung, groß genug, um den Kopf von unten in das Modell zu stecken und das Innere zu betrachten. Der Innenraum wurde ursprünglich mit Kerzen beleuchtet – die Wachsspuren sind teilweise noch zu erkennen – und bot so den Betrachtern die Möglichkeit, einen Eindruck vom Innenraum des Domes zu erhalten.
Auch hier gibt Schropp die Architektur sehr getreu wieder. Bei der Ausstattung des Domes dagegen weicht das Modell weitgehend vom Original ab.
Während das Äußere des Domes (abgesehen vom Nordturm) bei der Einstellung der Bauarbeiten 1513 weitgehend fertiggestellt und danach kaum mehr verändert worden war, hatten Liturgiereformen und Änderung der Stilideale zu umfangreichen Änderungen an der Ausstattung geführt. Am auffälligsten ist wohl der Hochaltar und die zahlreichen Seitenaltäre an den Pfeilern des Langhauses.
Hier wurde – wie es dem Geschmack des 19. Jahrhunderts weitgehend entsprach und wie es Schropp auch am Außenbau des Modells befolgte – alles Nachmittelalterliche nicht berücksichtigt und durch fiktive Ausstattungsteile in neogotischem Stil ersetzt. So wurde der barocke Hochaltar von 1647 durch eine monumentale Tabernakelarchitektur ersetzt, wie sie für die Gotik in Wien völlig unüblich war und wie sie nie in St. Stephan bestanden hat.
Auch die barocken Altäre, die im Original mit ihrer Architektur raumgreifend gestaltet sind, wurden durch neogotische Entwürfe ersetzt. Sie bestehen aus einem gemalten Bild, das flach vor die Pfeiler gestellt wurde und in dieser Grundform nicht auf mittelalterlichen Vorbildern aufbauen: kein Flügelaltar, keine Skulptur, keine architektonische Rahmung wurden für die Altäre verwendet. Die Malereien kopieren meist bekannte Vorbilder der Neuzeit, etwa die „Sixtinische Madonna“ von Raffael, ein Hauptwerk der Renaissance, das sich in der Dresdener Gemäldegalerie befindet. Die Altäre sind eine bemerkenswerte Mischung aus verschiedenen Epochen mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen von Gestaltung und Räumlichkeit.
CHORGESTÜHL
Ein Element der Ausstattung ist im Modell sehr liebevoll und aufwendig gestaltet: das gotische Chorgestühl, das seit 1945 nicht mehr existiert. Das große, zweireihige Chorgestühl wurde um 1480 in das Mittelschiff des Chores gebaut.
Zahlreiche Skulpturen und Reliefs zierten es und bildeten einen reichen Schatz an mittelalterlichen Darstellungen der Passion Christi und anderer Themen. Um 1700 wurden über dem Chorgestühl barocke Emporen (für die Kirchenmusik mit einer Orgel und für den kaiserlichen Hof) gebaut. Diese wurden von Schropp – aus den bekannten Gründen des stilreinen Ideals – nicht berücksichtigt, das Chorgestühl aber sehr wohl.
Beim Brand des Domes gingen beide Elemente verloren. Und obwohl das Chorgestühl im Krieg fotografisch sehr genau dokumentiert wurde, konnte es nicht mehr rekonstruiert werden. Nach den Vorstellungen der Nachkriegszeit war man offensichtlich froh, den Chor von Einbauten befreien und die „reine Architektur“ zeigen zu können.
RESÜMEE
Das Modell von St. Stephan ist in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Kunstwerk: als Dokument der Auffassung des 19. Jahrhunderts, wie man mit dem mittelalterlichen Bau umgehen sollte; als augenscheinliches Beispiel dafür, wie eine stilreine gotische Inneneinrichtung aussehen hätte können; vorallem aber als erstaunliches Beispiel der Modellbaukunst, indem in 20 Jahren Bauzeit mit phantasievollen Methoden und Techniken ein gewaltiges Modell des Stephansdomes gebaut wurde, das nun wieder aus der Nähe betrachtet werden kann. Selbst das Innere – wenn auch nicht mehr direkt wie zur Entstehungszeit (das wäre zu gefährlich) – kann durch ein Periskop betrachtet werden.
MMag. Franz Zehetner,
Archivar des Archivs der Dombauhütte
Das Wien Museum am Karlsplatz ist von Dienstag bis Freitag, von 9 bis 18 Uhr,
Samstag und Sonntag von 10 bis 18 Uhr sowie am 24. 12. und 31. 12. von 10 bis
14 Uhr geöffnet. Geschlossen immer montags sowie am 1. 1., 1. 5. und 25. 12.
Eintritt kostenlos!
Wien Museum
Karlsplatz 8
1040 Wien