(K)ein Archiv wie jedes andere
Das Domarchiv St. Stephan stellt sich vor.*
* Ohne Anspruch auf Vollständigkeit
Es sind unscheinbare Räumlichkeiten im ersten und zweiten Stock des Curhauses am Wiener Stephansplatz, in denen sich das Domarchiv St. Stephan befindet, in dem Archivalien den Stephansdom betreffend verwahrt werden. Aufgrund der langen Geschichte der Stephanskirche und den wechselnden Zuständigkeiten und der Verantwortung verteilen sich Schriftstücke, die über die Finanzen, die Geschichte und das (liturgische) Leben am Dom Auskunft geben, auf das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das Wiener Stadt- und Landesarchiv, das Diözesanarchiv Wien und auf das Domarchiv. Was befindet sich nun direkt am Stephansplatz?
DAS MATRIKENARCHIV DER METROPOLITAN- UND DOMPFARRE ST. STEPHAN
St. Stephan ist jene Pfarre in Wien und Österreich, deren Personenstandsaufzeichnungen am frühesten, nämlich vor 500 Jahren (1523), beginnen. Das Sterbebuch „Protocollum mortuorum“ aus diesem Jahr ist das älteste Matrikenbuch Österreichs. Neben den üblichen Kirchenbüchern – Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher – gibt es noch die sogenannten „Bahrleihbücher“. Der Name leitet sich vom Herleihen der Toten bahre her. Sie sind Funeralprotokolle bzw. Begräbniskostenbücher, die ab 1663 bis 1928 gesondert geführt wurden. Da der Dom das Begräbnisrecht über das gesamte alte Pfarrgebiet – das ist der Großteil der Inneren Stadt, Teile des zweiten, dritten und vierten Bezirkes – innehatte, finden sich in diesen Büchern auch Begräbniseintragungen von Personen, die nicht im Pfarrgebiet von St. Stephan gestorben sind. Sie bilden eine wichtige Quelle für die Geschichte der „schönen Leich‘“ in der Stadt Wien und dokumentieren den letzten Weg von Persönlichkeiten der (Kirchen-)Geschichte, wie zum Beispiel: den Architekten der Karlskirche Johann Bernhard Fischer von Erlach, Lukas von Hildebrandt, den Maler Johann Michael Rottmayr oder aus dem Bereich der Musik den Hofkapellmeister Georg Christoph Wagenseil, die Komponisten Johann Joseph Fux, Antonio Salieri und Franz Schubert. Als einziger Heiliger ist der Wiener Stadtpatron Klemens Maria Hofbauer im Totenbuch und im Bahrleihbuch von 1820 verzeichnet.
Die wohl berühmteste Persönlichkeit in den Matriken von St. Stephan ist Wolfgang Amadeus Mozart. Im Archiv finden sich Einträge zu dessen Vermählung mit Constanze Weber, zur Taufe zweier seiner Kinder sowie die Eintragung seines Todes und die Begräbnisabrechnung im Bahrleihbuch von 1791, welche beweist, dass es sich hierbei um kein Armenbegräbnis gehandelt hat.
Nach Abschluss der Digitalisierung aller Matrikenbücher der Erzdiözese Wien im Dezember 2015, können nun alle Matrikeneintragungen unter Beachtung der Bestimmungen des Personenstandsgesetzes im Internet („matricula online“) eingesehen werden. Eine Einsicht in die Originalmatrikenbücher ist daher nicht mehr nötig, was zu einer spürbaren Entlastung des Archivs geführt hat und zudem die alten Bücher vor Schäden schützt. Bis dahin wurde es vor allem von Genealogen frequentiert, was eine aufwendige Betreuung erforderte.
DAS ARCHIV DER (ERZ-)BISCHÖFLICHEN CUR VON ST. STEPHAN UND DAS PFARRARCHIV
Die (Pfarr-)Seelsorge an der (Dom-)Kirche St. Stephan ist seit dem 13. Jahrhundert einer Weltpriestergemeinschaft anvertraut, die als „Erzbischöfliche Cur von St. Stephan“ (von „cura animarum“ – Seelsorge) bezeichnet wird. Ihr Vorsteher ist der Cur- und Chormeister, heute im Regelfall der amtierende Dompfarrer. Da es meistens acht Priester waren, wurden sie früher „Achter“ oder auf Latein „Octonarii“ genannt. Diese Domkuraten bzw. Curpriester versehen auch heute die Pfarrgottesdienste und spenden die Sakramente.
Die Curpriester bilden eine der ältesten, bis heute existierenden Weltpriestergemeinschaften der Weltkirche. Ihr Archiv umfasst neben chronikartigen Aufzeichnungen, die das Pfarrleben und das liturgische Geschehen im Lauf der Jahrhunderte dokumentieren, Rechnungsbücher, Pfarrakten, Curordnungen, Prozessions- und Gottesdienstordnungen sowie die Originalpläne und Verträge zum Bau des Curhauses aus dem Jahr 1738.
Ein ganz besonderer und zum Großteil noch ungehobener Schatz sind die 1.100 Stiftungsurkunden. Es sind bereits 74 digitalisiert. Sie stammen aus der Zeit von 1323 bis 1580 und sind wissenschaftlich erschlossen (Digitalisate auf: „monasterium.net“), 25 Stück sind „großformatige“ (Pracht-)Urkunden aus der Zeit von 1642 bis 1776. Im Wesentlichen handelt es sich um die Stiftung von Seelenmessen, Jahrtagen und Ähnlichem, also um „Seelgeräte“ für das ewige Seelenheil. Noch 1899 stifteten Postbedienstete der Stadt Wien Seelenmessen für Kaiserin Elisabeth. Die jüngsten Urkunden stammen aus dem 20. Jahrhundert. Erhalten haben sich auch Inventare der Domkirche und der Reliquienschatzkammer, Bruderschaftsbücher, Schematismen und Konsistorialprotokolle. Selbstverständlich gehört das aktuelle Pfarrarchiv und die Pfarrbzw. Domchronik auch zum Domarchiv sowie das aktuelle Kunstgutinventar der Domkirche.
DAS NEUZEITLICHE ARCHIV DES KIRCHENMEISTERAMTES
Da das Amt des Kirchenmeisters – des Verwalters der Domkirche – ursprünglich ein städtisches Amt war, befinden sich die mittelalterlichen Rechnungsbücher im Stadt- und Landesarchiv, Ausnahmen sind die Rechnungsbücher von 1412 und 1476. Erst seitdem aus dem unter der Aufsicht des Magistrats stehenden weltlichen Amtes ein kirchliches wurde, werden die Rechnungsbücher des Kirchenmeisteramts ab 1709 im Domarchiv gesammelt. Sie geben Auskunft über die finanziellen Aufwendungen, die für Restaurierung, Liturgie, Glocken etc. getätigt wurden. Zu finden sind auch Besoldungsbücher, Kirchenmeisteramtsakten wie zum Beispiel ausführliche Unterlagen zur Turmrestaurierung von 1840–1843.
Nach dem Dombrand in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs (11. Und 12. April 1945) begann man sehr schnell mit der Beseitigung der großen Brandschäden. Der umfangreiche Bestand an Akten, Bautagebüchern, Plänen etc. zu Zerstörung und Wiederaufbau des Domes von 1945 bis 1952 bildet eine wichtige zeithistorische Quelle.
DAS ALTE DOMMUSIK-ARCHIV
Beim Brand des Domes und des Curhauses in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs fiel ein Großteil des in 25-jähriger Arbeit katalogisierten alten Dommusik-Archivs den Flammen zum Opfer. Der Bestand an den Gebrauchs messen und handschriftlichen Noten wurde zu ca. 75 Prozent, die Instrumente sogar gänzlich vernichtet. Hans Brunner zufolge hatte dies große Auswirkungen auf den kirchenmusikalischen Alltag: „Kamen früher Wiederholungen durchschnittlich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur in jedem zweiten bis dritten Jahre vor, so müssen jetzt gar manche (vor allem) Sonntagsmessen in einem Jahr zwei- bis dreimal aufgeführt werden. Mehrstimmige Gradualien und Offertorien sind nur für die höchsten Festtage sowie für Advent und Fastenzeit vorhanden. Messen müssen oft entliehen werden.“ (Brunner, Hans: Die Kantorei bei St. Stephan in Wien. Beiträge zur Geschichte der Wiener Dommusik, hrsg. vom Dommusikverein St. Stephan anlässlich seines 25-jährigen Bestandes, Wien 1948, S. 32) Der verbliebene Teil dieser ehemals umfangreichen Sammlung erlitt 2018 durch einen Wasserschaden enorme Schäden, die allerdings behoben werden konnten. Die Musikalien wurden unter der Leitung von Dr. Elisabeth Hilscher (ÖAW) katalogisiert und einer fachgerechten Archivierung im Domarchiv zugeführt. Seit 2019 erfolgt unter ihrer Leitung die wissenschaftliche Aufarbeitung des Repertoires, bestehend aus 557 Signaturen mit Kompositionen für Chor und Orchester bzw. Orgel. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Musik zur Liturgie in der Metropolitan- und Domkirche St. Stephan zu den hohen Feiertagen.
ZIMELIEN (KLEINODIEN), KURIOSITÄTEN UND SAMMLUNGEN
Wie in jedem anderen Archiv, finden sich auch im Domarchiv Dinge, die eigentlich mit dem Dom und seiner Geschichte wenig zu tun haben. Erhalten haben sich besondere (Hof-)Predigten, etwa die Totenpredigten für Kaiserin Maria Theresia, Kaiser Franz Joseph und Papst Pius VI., Priesternachlässe, Sammlungen verschiedenster Bereiche mit Schwerpunkt Stephansdom und Stephansplatz wie Zeitungen und Zeitungsausschnitte sowie ein großer Bestand an Fotos und historischen Ansichtskarten.
An besonderen Kuriositäten seien ein Brief von Sultan Murad III. an Kaiser Rudolf II. aus dem Jahr 1582 und eine – eigentlich streng geheime – Papstwahlliste aus dem Konklave von 1740, aus dem Papst Benedikt XIV. hervorging, genannt.
DIE CURHAUSBIBLIOTHEK
Nicht zu vergessen sei die wertvolle Bibliothek im zweiten Stock des Curhauses, die „Donin’sche Curhausbibliothek“. Ihre Bedeutung besteht nicht nur in den ca. 30.000 Bänden, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen und schon vor über 100 Jahren in Form eines gedruckten Kataloges gewürdigt wurden. Bedeutsam ist auch die Form ihrer Unterbringung: Zum einen an dem historischen Ort ihres Entstehens und Wachsens, zum anderen in den schon rund 150 Jahre alten 16 Bibliothekskästen mit einer noch vollständig erhaltenen Registratur, die bis heute das Auffinden eines Buches an seinem angestammten Platz ermöglicht. Bestand und Raum bilden so eine harmonische bibliophile Einheit, wie sie in diözesanen Bibliotheken kaum mehr anzutreffen ist. Benannt ist die Bibliothek nach dem Curpriester Ludwig Donin (1810– 1876), Verfasser zahlreicher Gebets- und Erbauungsbücher, historischer und politisch- polemischer Schriften sowie Bücher über den Stephansdom. Ludwig Donin hat seine Privatbibliothek testamentarisch der fürsterzbischöflichen Cur von St. Stephan vermacht, und eine von ihm gegründete Stiftung sollte die Erhaltung der Bibliothek finanzieren.
BESTÄNDE DES DOMARCHIVS IM DIÖZESANARCHIV (1010 WIEN, WOLLZEILE 2)
Ein großer historischer Bestand aus Urkunden, Handschriften und Akten, der eigentlich streng genommen zum Domarchiv gehört, wird als Depositum im Diözesanarchiv Wien verwahrt. Dazu gehört das historische Archiv des 1365 von Herzog Rudolf IV. gegründeten Kollegiatkapitels, des heutigen Metropolitan- und Domkapitels zu St. Stephan und Allerheiligen, das Archiv der (Dom-)Propstei St. Stephan und der Dechantei Kirnberg.
Jene Bestände des Diözesanarchivs, die vor der Gründung der Diözese Wien 1469 datieren und St. Stephan betreffen (Pfarre und Pfarrkirche St. Stephan, Kirchenmeisteramt …), gehören ebenfallszum Bestand des Domarchivs, werden aber aus personellen und Kapazitätsgründen im Archiv der Erzdiözese Wien verwahrt. Als Besonderheit zu erwähnen sind zwei Bruderschaftsbücher, in denen sämtliche Namen ihrer Mitglieder verzeichnet sind. Darüber hinaus enthält das Bruderschaftsbuch der „Liebfrauenzeche zu St. Stephan“ (ab 1351 bzw. 1405) die sogenannte „Marienleich“, das älteste Mariengebet in deutscher Sprache, jenes der „Corpus- Christi-Bruderschaft“ (Fronleichnamsbruderschaft) einen Bericht über die Anfänge dieser frommen Vereinigung, Abschriften von päpstlichen Bullen, Privilegien und Ablassurkunden. Die erste Seite ist kalligrafisch aufwendig und mit Buchmalerei gestaltet. Um diese Bestände kümmert sich Diözesanarchivarin Dr. Johanna Kößler mit ihrem ausgezeichneten Team. Die Zusammenarbeit funktioniert nicht nur überaus professionell, sondern auch unkompliziert und mit viel Humor.
LAUFENDE KOOPERATIONEN UND PROJEKTE
Gemeinsam mit dem Wiener Stadt- und Landesarchiv sowie den Kolleginnen und Kollegen im Diözesanarchiv werden derzeit jene Einträge im Wien Geschichte Wiki der Stadt Wien (geschichtewiki.wien.gv.at) überarbeitet, neu geschrieben und ergänzt, die die Erzdiözese Wien und den Stephansdom zum Inhalt haben. Das Domarchiv wird dabei dankenswerterweise unterstützt von Frau Mag. Monika Jaroš (radio klassik Stephansdom/ÖAW).
Darüber hinaus gibt es gute Kooperationen mit verschiedenen Abteilungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, besonders mit dem Institut für Mittelalterforschung, Abteilung Editionsunternehmen und Quellenforschung – MIR. Frau Dr. Renate Kohn arbeitet an einer Edition der Inschriften von St. Stephan und forscht in vielen anderen Gebieten, vor allem über die Fürstengrablege Herzog Rudolf IV. und das Grabmal Kaiser Friedrich III. Ihre diesbezüglichen Publikationen haben sich als Referenzwerke erwiesen.
Die wenigen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Domarchivs kommen und gehen, einer aber ist seit dem Jahr 2006 dem Domarchiv treu geblieben, daher sei er hier eigens erwähnt und bedankt: Herr Georg Urban, MA.
WIE SIEHT DER TAG EINES DOMARCHIVARS EIGENTLICH AUS?
Auf diese häufig gestellte Frage antwortet dieser meist mit: „Er versucht, einen guten Eindruck zu machen, und das ist schwierig genug.“
Der Archivalltag ist bunter, als viele meinen. Neben der Ordnung und Erschließung der Bestände gilt es, die Forschenden zu betreuen und ihnen bei ihren Recherchen hilfreich zur Seite zu stehen. Ein Großteil der Arbeitszeit wird dafür aufgebracht, historische (und manchmal auch hysterische) Anfragen, die per Brief, E-Mail und persönlich sowie telefonisch oder über andere Abteilungen an das Archiv gestellt werden, zu beantworten. Dazu kommen noch Vorträge wie bei den „Theologischen Kursen“ oder für die Kirchliche Pädagogische Hochschule, bei Symposien oder auch im Rahmen von Lehrveranstaltungen der Universität Wien. Nicht zu vergessen sind Publikationen für diverse Medien, Sonderführungen zu speziellen Themen sowie die Begleitung von Projekten und die Zusammenarbeit mit anderen Archiven. Der Leihverkehr für Ausstellungen externer Institutionen wird über das Archiv abgewickelt, sofern er nicht die Dombauhütte betrifft. Das Domarchiv ist die kleinste Abteilung innerhalb der Domkirche mit überraschend vielen Räumlichkeiten und die einzige, in der es keinerlei disziplinare Schwierigkeiten mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, denn: Der Gruber schafft an und der Reinhard macht es.
Das Domarchiv ist das Gedächtnis des Domes, die Matriken auch jenes der Menschen der Stadt Wien. Das Archiv und seine Archivalien stehen unter Denkmalschutz und sind ein ebenso kostbarer Schatz wie der von vielen bestaunte Kirchenschatz aus Gold und Silber. Es ist der Speicher des immateriellen Kirchenschatzes und das historische Gedächtnis der spirituellen Geschichte des Stephansdoms und seiner (Pfarr-)Gemeinde.
Das Domarchiv dokumentiert das liturgische, pfarrliche und bauliche Geschehen an dieser heiligen Stätte und das seelsorgerliche Wirken. Es dient der Verwaltung der Kirche und der Erforschung ihrer Geschichte. Papst Paul VI. sagte einmal: „Ein kirchliches Archiv soll den Durchgang des Herrn durch diese Welt widerspiegeln.“ Dieses Zitat hängt an der Türe des Archivspeichers von St. Stephan. Es ist Auftrag und Verpflichtung zugleich.
Archiv der Domkirche St. Stephan Stephansplatz 3, 1010 Wien
E-Mail: domarchiv-st.stephan@edw.or.at
Tel.: +43 1 51552-3531