UR-DOM-WISSEN – KUNSTWERK DES QUARTALS: Der kleine Schmerzensmann
Eine außergewöhnliche Skulptur befindet sich im Nordschiff des Langhauses, gegenüber dem Orgelfuß Meister Pilgrams. Sie gehört nicht zu den monumentalen Figuren, die sich in den Figurennischen in ca. 10 Meter Höhe befinden, sondern ist nur knapp über Kopfhöhe auf einer kleinen Konsole angebracht. Die elegant und bewegt gestaltete Figur selbst ist nur ca. 90 cm hoch. Sie stellt den auferstandenen Christus, der seine Wundmale zeigt, dar. Die rechte Hand zeigt auf die Seitenwunde, die linke Handfläche mit ihrer Wunde wird nach vorne präsentiert. Diese Darstellungsart wird als „Schmerzensmann“ bezeichnet und ist im Dom häufig zu finden: Am berühmtesten ist wohl der „Zahnwehherrgott“, der aber nur oberhalb der Hüfte, in einer Wolke entrückt, dargestellt ist.
Dagegen zeigt diese kleine vollfigurige Skulptur einen sehr präsenten Christus, der auf den Betrachter zugeht und für den in seiner lebendigen Bewegung die Wunden der Passion nur mehr eine ferne Erinnerung sind.
Er ist unbekleidet, nur ein Tuch, das großzügig drapiert ist, verdeckt auch die Lenden und wird dem Betrachter präsentiert. Die Freude des Bildhauers, den Körper in seiner Bewegung und seiner anatomischen Form zu zeigen, ist ganz offensichtlich. Besonders die Beinmuskeln, der Brustkorb und die Schulterpartie sind nicht mehr idealisiert, sondern sehr realistisch gestaltet und farbig gefasst.
Die Betonung des Tuches, das in der Bewegung den Betrachtern förmlich präsentiert wird, erinnert an die Episode seines Martyriums, in der er seiner Kleider beraubt wird. Die Skulptur wird daher bei Kreuzwegandachten im Dom in die Betrachtungen der 10. Station eingebunden.
Auch für sich selbst genommen ist diese kleine Skulptur aus der Zeit um 1480, die noch unter dem Einfluss von Niclas Gerhaert steht, ein bemerkenswertes Kunstwerk am Übergang zwischen Gotik und Renaissance.